10.

Im Dorfe gab es inzwischen viel Gerede, das aller Orten darauf hinauslief: »Es sei was passiert und es stimme nicht mit den Hradscheks. Hradschek sei freilich ein feiner Vogel und Spaßmacher und könne Witzchen und Geschichten erzählen, aber er hab’ es hinter den Ohren, und was die Frau Hradschek angehe, die vor Vornehmheit nicht sprechen könne, so wisse jeder, stille Wasser seien tief. Kurzum, es sei den beiden nicht recht zu traun …«

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

 

 

Hansjürgen Mannhardt und sein Enkel hatten beschlossen, nach Bremen zu fahren und mit Rainer Wiederschein zu reden. Da sich Heike weigerte, Mannhardt ihren Wagen zu überlassen, und Orlando zudem immer übel wurde, wenn er länger als eine Stunde im Auto saß, blieb ihnen nur die Bahn.

»Über Hannover dauert es rund drei Stunden«, sagte Orlando, als er sich im Internet kundig gemacht hatte. »Spandau ab: 7.05 Uhr, Bremen an: 9.51 Uhr.«

»Und wie viel Zeit hätten wir zum Umsteigen?«, fragte Mannhardt.

Orlando sah auf seinen Computerausdruck. »17 Minuten.«

Mannhardt schüttelte den Kopf. »Das schaffe ich unmöglich.«

»Was denn, Opa, du schaffst es in Hannover in 17 Minuten nicht vom Gleis 12 zum Gleis 11 – und das ohne Gepäck?«

»Was heißt hier 17 Minuten?«, fragte Mannhardt. »Wenn unser Zug 20 Minuten Verspätung hat, womit ja immer zu rechnen ist, hätte ich minus drei Minuten – und das ist für einen älteren Menschen wie mich wirklich zu wenig.«

»Nicht jeder Zug hat Verspätung«, erklärte Orlando.

»Schön, wie du das sagst, das klingt wirklich verheißungsvoll, aber die Wirklichkeit wird dich mühelos widerlegen.«

Was sie dann tatsächlich tat, wenngleich sie bei der Abfahrt nur fünf Minuten Verspätung hatten, was bei der Bahn per Definition als pünktlich galt. Auf der Fahrt schaute Mannhardt aus dem Fenster und fragte sich, ob das Havelland, flach wie es war, beim Abschmelzen der Eiskappen auch überschwemmt werden würde.

»Schade um den Großen Havelländischen Hauptkanal«, sagte er. »Und schade um Effi Briests Heimat. Aber du bist ja mit deiner Lektüre mehr an der Oder als an der Havel …«

Das bezog sich darauf, dass sein Enkel  in diesem Moment in Fontanes ›Unterm Birnbaum‹ blätterte, hoffend, die eine oder andere Parallele zu finden, die sie in der Sache Klütz weiterbringen konnte.

»Ich sehe doch eher die Unterschiede«, sagte er nach einiger Zeit. »Vor allem: Bei Fontane gibt es keinen Klütz.«

»Weil es noch keine Fußballer gab«, stellte Mannhardt fest. »Wie denn auch in den Jahren 1831 bis 1833?«

Orlando fixierte seinen Großvater. »Und deine jahrhundertelange Berufserfahrung sagt dir, dass es unterm Kirschbaum wie unterm Birnbaum war, also wie bei Fontane, dass Wiederschein seinen Onkel ermordet und seine Frau dann als Schulz mit dem Porsche davongefahren ist …?«

»Richtig. Szulski aus Polen gleich Schulz aus Berlin, das ist doch einsichtig genug, Ursel Hradschek gleich Angela Wiederschein.«

»Und Klütz?«

Mannhardt lachte. »Klütz ist nur eine neuzeitliche Arabeske. Heutzutage hätte Fontane auch ans Fernsehen denken müssen, und da macht sich eine zweite Ebene immer gut. Mit einem Fußballprofi, einer Modemacherin, einem Ehedrama.«

»Hm, Wiederschein also.« Orlando blätterte in dem Kommentar, den Helmuth Nürnberger zu Fontanes Roman geschrieben hatte, und zitierte einige Zeilen: »Derjenige ist der Mörder, dem man die Tat eigentlich nicht zutrauen möchte, weil er gewiss nicht die Züge eines Gewaltverbrechers trägt und nur durch die äußeren Umstände zum Täter wird. Es ist das eigentlich Faszinierende an Fontanes Darstellung, wie wenig auffallend der Mörder ist …« Orlando machte eine kleine Pause. »Ich finde aber, dass Wiederschein höchst auffallend ist, ein Weltenbummler, ein Frauenheld, einer, der es zum Sternekoch bringen könnte, wenn er denn wollte, ein Paradiesvogel. Unauffällig ist doch gerade Klütz.«

Mannhardt schüttelte den Kopf. »Aber nicht mit seinen über 100 Bundesligaspielen.«

»Zur Zeit der Tat hat er nur in der Verbandsliga gespielt«, gab Orlando zu bedenken.

»Na schön, aber es gibt faktisch nichts, womit Wiederschein noch zu überführen wäre. Und freiwillig wird er bestimmt nichts gestehen.« Mannhardt machte sich da keinerlei Hoffnungen.

»Dann müssen wir uns eben an seine Frau halten«, sagte Orlando und verwies auf eine entsprechende Stelle im Nachwort: »Der Täter fürchtet nicht sein Gewissen, sondern nur die Entlarvung. Seine Frau aber erträgt den fortgesetzten psychischen Druck nicht; sie siecht dahin, ihre Ruhelosigkeit ist für alle bemerkbar.«

Mannhardt lachte. »Ach, komm, wer heutzutage Angela heißt, der hat doch sein großes Vorbild und ist durch nichts zu erschüttern.«

Orlando ließ sich nicht beirren. »Ich bin zwar kein Kriminalkommissar, aber später als Staatsanwalt Herr des Verfahrens, und so weise ich Sie jetzt an, Herr Mannhardt, Angela Wiederschein als Schlüssel im Fall Klütz zu sehen, denn als Fontane-Fan müssen Sie doch sehen, dass dies der entscheidende Hinweis ist: ›Seine Frau aber erträgt den fortgesetzten psychischen Druck nicht …‹ Sie müssen wir aufs Korn nehmen, wenn ich das anmerken darf.«

 

*

 

Angela Wiederschein saß in Allahabad am Ufer des Ganges und murmelte das wichtigste Mantra des tibetanischen Buddhismus: »Aum mani padme hum.« ›A‹ bezeichnete die Wachsamkeit des Menschen, ›u‹ die Traumwelt und ›m‹ den tiefen Schlaf. Aum war die mystische Silbe, die vom Atom bis zum Universum alles erfasste. Angela wippte mit dem Oberkörper leicht hin und her. Höre dein eigenes Atmen, höre den Klang deines Atems, höre, wie der Klang deines Atmens zu einem Mantra wird, spüre, wie sich das Mantra mit deinem Körper vereint, fühle die Energie, die es produziert, lasse es fließen, höre die innere Energie deines Körpers …

Sie war nach Indien gekommen, um sich einen Guru zu suchen. Bina guru gnana nahi! Ohne Guru gibt es kein Wissen. Noch aber hatte sie keinen gefunden, noch musste sie selber lesen, was bedeutsam war.

Woher hat diese Schöpfung sich erhoben, / ist sie geschaffen oder unerschaffen, der eine nur, / der auf sie blickt aus höchster Himmelssphäre, er weiß es, oder er weiß es nicht?

Das war aus der Rigveda, aber alles, was sie bisher wusste, war nur Stückwerk, es fehlte das Band, das alles einigte. Aber es war gar nicht so einfach, einen guten Guru oder Ashram zu finden. Die wahren Meister hatten es nicht nötig, nach Kunden Ausschau zu halten, und das ›guru-shopping‹, wie es viele Amerikaner betrieben, hasste sie.

Angela Wiederschein hatte Hunger. Sie stand auf, um in die Stadt zu gehen und sich ein annehmbares Restaurant zu suchen. Sie liebte die indische Küche, obwohl ihr die ungewohnte Schärfe der Speisen weiterhin Schwierigkeiten bereitete. Sie musste einen Liter Wasser nach dem anderen trinken, um das Essen zu entschärfen. An sich missfiel ihr aber die oberste Lebensmaxime des Inders: ›Khao, pio, maja karo!‹ – ›Iss, trink, hab Spaß!‹ –, denn sie war nicht nach Indien gekommen, um sich zu vergnügen.

»Namasté!«

Sie ging hinter einem hohen Beamten her, und alle begrüßten ihn mit außerordentlichem Respekt.

»One rupee, please!« Die Bettler hatten sie entdeckt und folgten ihr in froher Erwartung.

Am Straßenrand hockte ein Bauer und entleerte seinen Darm. Im Flugzeug hatten sie gespottet, dass es in Indien gar keine Epidemien geben könne, denn in der alten indischen Heilkunde der Ayurveda kämen Bakterien und Viren nicht vor.

Sie sah das Schild eines Restaurants und änderte ihren Kurs. ›Anand Bhavan‹, das hieß ›Tempel der Glückseligkeit‹. So hätten sie ihr Restaurant in Frohnau nennen sollen und nicht ›à la world-carte‹, dachte sie. In diesem Augenblick dudelte ihr Handy. Es dauerte eine Weile, bis sie es aus ihrem Rucksack gefischt hatte. Aber der Teilnehmer hatte noch nicht aufgegeben.

»Hallo, hier ist Pfarrer Eckel aus Frohnau!«

Angela Wiederschein blieb der Atem weg. »Das darf doch nicht wahr sein!«

»Wieso das?«

»Weil ich in dieser Sekunde gerade an Frohnau gedacht habe, an unser Restaurant, da …«

»Diesen schönen Fall von Gedankenübertragung sollten wir gleich dem Institut für Parapsychologie melden«, sagte Pfarrer Eckel. Sein Spott war verständlich, denn so zufällig war dies alles nicht, weil sie auch in ihrer Bremer Zeit immer engen Kontakt zu ihm gehalten hatte. »Ich wollte Ihnen auch nur sagen, dass der Fall Schulz im Augenblick von der Presse wieder hochgekocht wird, weil der Klütz sein Geständnis widerrufen hat und ein pensionierter Kriminalkommissar hier in Frohnau unterwegs ist und alle ausfragt.«

 

*

 

Mannhardt und Orlando erreichten Bremen ohne eine Sekunde Verspätung und überlegten, ob sie das dem Guinness-Buch der Rekorde melden sollten. Um 9.59 Uhr traten sie auf den Bahnhofsplatz, und da ihr Zug zurück nach Berlin um 19.18 Uhr abfuhr, hatten sie mehr als neun Stunden Zeit, um Rainer Wiederschein zu finden und mit ihm über das Damals zu reden. Das Geld für ein Hotelzimmer wollten sie sich sparen.

»Wohin, großer Meister?«, fragte Orlando.

»Zum Schnoor.« Mannhardt hatte in seinem früheren Leben einige Zeit in der Nähe Bremens gewohnt, sodass er sich in der Innenstadt ganz gut auskannte. Außerdem hatte es eine Menge dienstlicher Kontakte gegeben, sodass er ohne Mühe herausbekommen hatte, wo Wiederschein inzwischen arbeitete und wohnte.

Doch ehe sie losgingen, genoss Mannhardt erst einmal den regen Straßenbahnverkehr vor dem Hauptbahnhof. Sechs Gleise gab es hier, und man musste schon höllisch aufpassen, um nicht überrollt zu werden. Das war der Fluch der modernen Technik, dass die Niederflurzüge so leise waren. Ehe man sie hörte, hatten sie einen bereits erfasst. In Berlin gab es immer wieder Tote bei Begegnungen mit der Straßenbahn. Der Linie 8 nach Huchting konnten sie gerade noch ausweichen.

Sie machten sich auf den Weg zum Restaurant, in dem Wiederschein angeheuert hatte. Unter der Hochstraße hindurch kamen sie auf den Herdentorsteinweg, durchquerten die Wallanlagen und erreichten die Sögestraße. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, war ihre Enttäuschung groß, denn der Wirt teilte ihnen mit, dass Wiederschein nicht zur Arbeit erschienen sei.

»Warum das?«, fragte Mannhardt.

»Weil er im Krankenhaus liegt. Verkehrsunfall. Heute Nacht.«

»Wo liegt er denn?«

»Links der Weser.«

Mannhardt war etwas desorientiert. »Ich meine, in welchem Krankenhaus?«

»Das Klinikum heißt so.«

Weiter wollten sie den freundlichen Mann nicht belästigen und fragten an der Domsheide einen Polizisten, wo das Klinikum Links der Weser läge.

»Draußen in Kattenturm.«

»Danke. Und wie kommen wir dorthin?«

»Mit der 4 Richtung Arsten.«

So kam Mannhardt doch noch in den Genuss einer Fahrt mit der Straßenbahn. Als ehemaliger West-Berliner hatte er in dieser Hinsicht einen gewissen Nachholbedarf, denn dort war der Straßenbahnverkehr 1967 eingestellt worden.

Sich zu Rainer Wiederschein durchzufragen, erwies sich als nicht sonderlich einfach, und so waren sie ein wenig erschöpft, als sie schließlich an seinem Krankenbett standen. Es war ein Zweibettzimmer, aber der andere Patient lag gerade auf dem Operationstisch, sodass sie ungestört miteinander reden konnten. Mannhardt stellte sich und seinen Enkel vor und kam etwas zögerlich auf den Grund ihres Besuches zu sprechen.

»Wir wollten Sie in Ihrem Restaurant aufsuchen, Herr Wiederschein, also nicht in Ihrem, sondern in dem, in dem Sie jetzt arbeiten, aber da sagte man uns, dass Sie einen Verkehrsunfall gehabt hätten …?«

Wiederschein zeigte auf seinen Turban. »Ja, ich bin auf der Osterholzer Heerstraße gegen einen Bus gelaufen, aber es geht schon wieder …«

Mannhardt nahm einen neuen Anlauf. »Wir kommen aus Berlin …«

»… und sind sozusagen von einer privaten Mordkommission«, fuhr Wiederschein fort. »Ich weiß. Dem lieben Herrn Klütz ist ja nun eingefallen, dass er meinen Onkel doch nicht umgebracht und bei sich vergraben hat, also muss ich es gewesen sein.«

Mannhardt war überrascht von der Leichtigkeit, mit der Wiederschein die Sache betrachtete. Abgebrüht hätte man früher zu diesem Verhalten gesagt, aber das schien ihm nicht das richtige Adjektiv zu sein. Die Floskel von der Leichtigkeit des Seins traf es wohl besser. Konnte ein Mörder so heiter und gelassen reagieren, wenn man ihn zu überführen suchte? Mannhardt wusste auch nach langen Dienstjahren keine schlüssige Antwort auf diese Frage. Ja, unter Umständen schon, wenn die Verdrängung funktionierte, wenn er seine Tat vor sich selbst hinreichend rechtfertigen konnte, wenn er soziopathische Züge aufwies, nein, wenn ein Mensch so sympathisch und liebenswert war wie dieser Rainer Wiederschein.

Orlando nutzte die Auszeit seines Großvaters, um ein paar Fragen zu stellen. »Sie wissen, dass in Berlin wieder viel über Klütz geredet und geschrieben wird?«

»Ja, von Freunden aus meiner Zeit in Frohnau.«

»Und was sagt Ihre Frau dazu?«

Wiederschein lächelte maliziös. »Keine Ahnung, ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, seit wir geschieden sind.«

»Und wo ist sie abgeblieben, kann man sie mal sprechen?«

»Keine Ahnung.« Wiederschein gab sich gelangweilt. »Sie ist ab ins Esoterische, sich selbst finden und der ganze Humbug, die indische Schiene … Erst war sie bei den Hare-Krishna-Leuten in einem Tempel im Hunsrück, dann ist sie ab nach Indien. Auf Nimmerwiedersehen.«

»Ah, ja«, murmelte Mannhardt. »Und was ist aus Ihrem Haus in Frohnau geworden?«

»Das interessiert mich nicht mehr.« Diesmal klang Wiederschein doch ein wenig bitter. »Das gehört jetzt alles anderen Leuten. Das alte Lied: Schulden, Konkurs, Zwangsversteigerung. Wir sind dann nach Bremen, wo Angela Verwandte hatte, und ich habe als Kellner gearbeitet. Was soll’s? Mein Leben war immer eine Achterbahn, und von nun an geht’s wieder bergauf.«

»Wie das?« Mannhardt kannte nur das Lied von Hildegard Knef, in dem das Gegenteil behauptet wurde.

»Meine Zukunft hat bereits begonnen: Romane, Drehbücher. Ich will mein Glück als Schriftsteller versuchen, und die Verlage reißen sich geradezu um mein erstes Manuskript.« Wiederschein strahlte so, als hätte er gerade den Nobelpreis erhalten.

»Worum geht es denn da?«, fragte Orlando der Höflichkeit halber.

»Um einen westlichen Manager, der total ausgebrannt nach Indien geht, um dort seinen inneren Frieden zu finden, und bei einem Guru landet. Das ist eine lange Geschichte, aber am Ende dreht der Manager den Guru um, und der kommt mit ihm nach Berlin, um endlich einmal richtig zu leben. Weil es um einen umgedrehten Guru geht, lautet der Titel auch ›Der Urug‹.«

»Ah ja.«

Mehr fiel Mannhardt zu diesem Thema nicht ein, und da in diesem Augenblick der Chefarzt mit seinem Gefolge das Zimmer betrat, war das auch das Ende ihres Gesprächs. Sie verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg zurück in die Bremer Innenstadt.

»Na?«, fragte Mannhardt seinen Enkel, als sie im Fahrstuhl standen.

»Meiner Ansicht nach war er es«, antwortete Orlando ohne längeres Nachdenken. »Und außerdem bin ich der Meinung, dass er seine Frau umgebracht hat, um sie als Mitwisserin loszuwerden. Von wegen Indien! Wie heißt es so schön: Further research is needed.«

 

*

 

Fiel das Wort Oderbruch, kam von Berlinern stets ein ›Ah …‹, denn vieles wurde mit ihm assoziiert: Friedrich der Große hatte begonnen, es trockenzulegen; im Norden, im Bruch hinterm Berge, hatten Ehm Welks Heiden von Kummerow den Erwachsenen den Spiegel vorgehalten; in Bad Freienwalde hatte Walter Rathenau in einem kleinen Schloss seinen Landsitz gehabt – und heute stand am Ortsrand eine Skisprungschanze; über die Kinder von Golzow gab es Dokumentarfilme noch und nöcher; am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Schlacht um die Seelower Höhen Tausende von Toten gefordert; auf der Festung Küstrin hatte der junge Friedrich mit ansehen müssen, wie man seinem Freund Katte den Kopf abschlug; und immer wieder gab es ein Hochwasser, bei dessen Bekämpfung sich junge Politiker hervortun und sich für künftige Ämter empfehlen konnten.

Ins Oderbruch hatte es auch Freddie und Gudrun verschlagen. Nach der Pleite des ›à la world-carte‹ hatten sie ihr Erspartes genommen und sich in Kienitz das Restaurant ›Am Deich‹ gekauft. ›Kienitz im Oderbruch, dort, wo der Panzer steht‹, hieß es im Internet.

Die beiden standen auf dem Deich, rauchten und schauten versonnen auf die Oder hinab, deren Wässer gelassen Richtung Ostsee flossen und auf der sich nur selten Lastschiffe, Ausflugsdampfer oder Sportboote sehen ließen. Seit Polen zu den Schengen-Staaten zählte, tuckerten nicht einmal mehr die Schlachtschiffe der Grenzer vorüber. Die Höhenzüge drüben im Polnischen schienen auf einem anderen Planeten zu liegen.

»Was ist tiefer?«, fragte Freddie. »Teller oder Tasse?«

»Die Oder!«, rief Gudrun, stolz auf das Geleistete.

Die beiden waren im Ort gut aufgenommen worden, kamen doch ihretwegen etliche Touristen aus Berlin nach Kienitz, und außerdem hatte Freddie in der Gaststube ein großes Foto hängen, das ihn in der Kienitzer Straße zeigte. Die lag in Neukölln, und dort war er aufgewachsen. Er konnte also mit Fug und Recht behaupten, ein echter Kienitzer zu sein.

»Hast du das gelesen?«, fragte er Gudrun, mittlerweile seine amtliche Ehefrau, sie wie immer neckend.

»Du weißt doch, ich kann nur in deinen Augen lesen, sonst nicht. Was ist denn los?«

»Los ist, was nicht festgebunden ist.«    

»Haha.«

Freddie wurde ernsthafter. »Es geht um den Wiederschein.«

Gudrun erschrak. »Wieso denn das?«

»Der Klütz hat sein Geständnis widerrufen, und nun sind sie auf der Suche nach einem anderen Mörder.« Freddie warf seinen Zigarrenstummel auf den Deich. »Ich hab kein gutes Gefühl dabei …«

»Warum das?«, fragte Gudrun.

»Weil ich schon immer geglaubt habe, dass … Als der Schulz damals zu seinem Porsche gegangen ist, da habe ich gestaunt, dass der so komisch geht. Und frühstücken wollte er auch nicht. Wenn das mal nicht die Angela war – als Schulz verkleidet …«

»Und warum hast du der Kripo nichts davon erzählt?«, wollte Gudrun wissen.

Freddie musste nicht lange nach einer Antwort suchen. »Weil man die Henne nicht schlachtet, die einem die goldenen Eier legt.«

Gudrun war für klare Verhältnisse. »Aber jetzt haben wir doch unsere eigene Henne, auch wenn es keine goldenen Eier sind, die sie legt.«

Freddie zog sich auf Kaiser Franz zurück. »Schau’ mer mal.«

 

*

 

Mannhardt saß mit der Gefährtin seines Lebens und seinem Enkel am Abendbrottisch und diskutierte die Lage.

»Ich denke, du hasst unseren Finanzsenator?«, warf ihm Heike an den Kopf.

»Ja, wie fast die ganze Stadt: wegen seines Sarrazynismus.« Was er meinte, war der stadtbekannte Zynismus des Finanzsenators, Theo Sarrazin (SPD), der einmal von sich gegeben hatte, die Berliner Eltern sollten sich wegen der Erhöhung der Kita-Gebühren nicht so aufregen, schließlich wolle er ihre Kinder nicht ins KZ schicken.

»Und dennoch machst du Sarrazin eine große Freude, indem du im Falle Klütz ehrenamtlich das erledigst, wofür eigentlich seine bezahlten Beamten zuständig sind.«

»Ich will meine Pension nicht geschenkt bekommen, ich will sie mir verdienen«, sagte Mannhardt.

Sein Enkel schüttelte den Kopf. »Die hast du dir während deiner 40 Jahre im öffentlichen Dienst längst verdient.«

»Da habe ich ja das Geld geschenkt bekommen, das heißt, ich hätte wegen des Spaßes, den ich bei der Verbrecherjagd hatte, eigentlich jeden Monat etwas in die Staatskasse einzahlen müssen.«

Heike ermahnte die beiden Männer, zum Thema zurückzukommen. »Was wollt ihr denn nun weiter unternehmen, um die Frage aller Fragen zu klären: War es Klütz oder war es Wiederschein oder Wiederschein zusammen mit seiner Frau?«

Orlando Drewisch lachte. »In jedem besseren Krimi ist es immer einer, an den vorher keiner gedacht hat.«

»Das Leben ist kein Krimi, den sich ein Schreiberling am Computer ausgedacht hat«, sagte Mannhardt.

»Willst du deinen vergötterten Fontane auch als Schreiberling abtun?«, rief sein Enkel.

Heike ignorierte das Geplänkel. »Wie soll es denn nun weitergehen?«

Mannhardt sah auf seinen Notizzettel. »Erst einmal wollen wir mit Sandra Schulz reden, vielleicht hat die irgendeine Erleuchtung. Dann mit dem sehr verunehrten Kollegen Schneeganß, ob der nicht offiziell mitspielen will. Auch die Psychologin, die Klütz im Knast betreut hat, könnte uns weiterhelfen, eine gewisse Margrit Minder-Cerkez. Und schließlich wollen wir an die Oder, nach Kyritz, um zwei von Wiederscheins Leuten aus dem ›à la world-carte‹ zu befragen, die sollen dort ein Restaurant aufgemacht haben.«

»Opa, du redest etwas wirr«, sagte Orlando. »Kyritz liegt nicht an der Oder, sondern an der Knatter …«

»Nein, an der Jäglitz«, korrigierte ihn Mannhardt.

»Meinetwegen auch an der Jäglitz, auf keinen Fall aber an der Oder. Was du gemeint hast, war Kienitz.«

»Man wird sich ja mal versprechen dürfen. Kienitz ist ein Ortsteil von Letschin – und da hat Fontane einst gelebt und gearbeitet.«

»Ja, unterm Birnbaum! Wow!« Orlando riss die Arme hoch.

 

*

Sandra Schulz fanden sie in der alten Schulz’schen Villa in Wannsee. Sie war in zweiter Ehe mit einem Architekten verheiratet und zeigte keine große Lust, über die alten Zeiten zu reden.

»Wenn Klütz wirklich fast zehn Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen hat, dann …« Mannhardt zielte auf ihr Mitleid ab.

»Unschuldig?«, fragte Sandra Schulz. »Wieso unschuldig: Er hat schließlich ein umfassendes Geständnis abgelegt.«

»Das tun viele Menschen«, sagte Mannhardt. »Denken Sie nur an den Mord an Martin Luther King. James Earl Ray hat gestanden, es gewesen zu sein, aber lesen Sie mal das Buch von William F. Pepper, dann wissen Sie, dass er es kaum gewesen sein kann.«

»Kommen Sie mir nicht mit dem Märchen von der Mafia, die Schulz erledigt hat und Klütz für sein Geständnis mit einigen Millionen belohnen wird, wenn er wieder draußen ist!«, rief Sandra Schulz.

»Sie waren mit Klütz eng liiert, Sie müssten doch eine Ahnung davon haben, ob er zu einer solchen Tat überhaupt fähig war, beziehungsweise was ihn dazu getrieben haben könnte, ein falsches Geständnis abzulegen.«

Sandra Schulz wich ihm aus. »Das ist alles schon zu lange her, und ich habe mir vorgenommen, alles zu vergessen. Mein erster Mann ist tot, ich lebe mit meinem zweiten glücklich und zufrieden, habe jetzt neben meiner Firma auch noch zwei reizende Kinder …«

Orlando grinste. »Also war es eigentlich ein Glück für Sie, dass Schulz …«

Sie fuhr auf. »Was soll das?«

Mannhardt winkte ab. »Sie haben ja Ihr Alibi für die Tatzeit, ich weiß: Mailand.« Er fragte sich aber, ob das damals wirklich jemand richtig abgecheckt hatte.

Sandra Schulz wollte zum Ende kommen. »Ich gebe also hiermit zu Protokoll: Ja, ich glaube, dass Karsten Klütz damals meinen Mann getötet hat, und dafür, dass er sich jetzt als Unschuldsengel hinstellt, fehlt mir jede Erklärung.«

 

*

 

Auf den Besuch bei seinem Exkollegen Gunnar Schneeganß freute sich Mannhardt nicht sonderlich. Arrogante Jungmänner mit Brilli im Ohrläppchen und Gel im Haar, Marke ›Deutschland sucht den Superdussel‹, standen bei ihm auf der emotionalen Abschussliste. Außerdem schien er im Fall Schulz wirklich ›Scheiße gebaut zu haben‹, wie Gisbert Hinz es am Telefon formuliert hatte. Der alte Hypochonder hielt sich auch als Pensionär durch seine vielen Krankheiten gesund, im Augenblick, so hatte er Mannhardt verraten, würde er sehr unter seinem Tennisarm zu leiden haben.

»Du hast doch nie Tennis gespielt …?«

»Trotzdem.«

Mannhardt marschierte mit gemischten Gefühlen durch die altvertrauten Gänge seines ehemaligen Dienstgebäudes. Einerseits war er froh, dieser Tretmühle entronnen zu sein, andererseits hätte er heulen können, dass nun alles vorbei war und am Ende seiner jetzigen Lebensphase Altersheim und Friedhof auf ihn warteten.

Aber immerhin, er hatte seine kosmische Pflicht erfüllt und seine Gene weitergegeben, und wenn sein Enkel wirklich einmal Staatsanwalt wurde, dann war das ja irgendwie die Fortsetzung seiner Karriere auf anderer Ebene.

Schneeganß hatte sie erwartet und extra dafür gesorgt, dass es nichts zu trinken gab, weder Mineralwasser noch Kaffee oder Tee. Er wünschte, wie ihm deutlich anzusehen war, Mannhardt mit seinem Aktionismus zum Teufel, musste sich aber kooperativ zeigen, weil er wusste, dass sonst die Presse über ihn herfallen würde. Heike Hunholz, Mannhardts Lebensgefährtin, war Journalistin und hatte ihre Möglichkeiten und Kontakte.

Mannhardt konnte also damit rechnen, dass Schneeganß ihn nicht so einfach abwürgen konnte.

»Lieber Gunnar«, begann er. »Ich bin nicht der bezahlte Anwalt von Klütz und habe nichts gegen Wiederschein, der ein sehr netter Mensch ist, ich will mich ebenso wenig in deine inneren Angelegenheiten einmischen, aber irgendwie treibt es mich und meinen Enkel, die Wahrheit herauszufinden. Du weißt ja, dass ich süchtiger Fontane-Verehrer bin, und fast scheint es mir so, als würde der Alte hier seine Hand im Spiel haben und Regie führen. Unterm Birnbaum, unterm Kirschbaum … Schön, Klütz kommt in seinem Roman nicht vor, aber Wiederschein ist doch irgendwie der wiederauferstandene Abel Hradschek, und seine Frau ist ganz die Ursel. Um Fontane geht es mir vor allem.«

Schneeganß nahm das kommentarlos hin. »Nun gut … Meiner Ansicht nach hast du dich zu willig vor Klütz’ Karren spannen lassen. Der ist zweifelsohne nur geil darauf, wieder mal im Mittelpunkt zu stehen. Das hat er doch schon lange nicht mehr gehabt. Nun aber: Ich widerrufe mein Geständnis, und sofort bin ich wie früher in den Medien. Und wenn es zu einem neuen Prozess kommen sollte, ist er der absolute King. Nein, du, ich spiel da nicht mit, solange es nicht hieb- und stichfeste Beweise dafür gibt, dass es dieser Wiederschein und seine Frau wirklich gewesen sein könnten. Oder meinetwegen auch der oder die große Unbekannte. Du bist also am Zuge.«

 

*

Sie hatten sich mit Margrit Minder-Cerkez in einem Café in der Fußgängerzone Alt-Tegel verabredet, was für Mannhardt sehr praktisch war, da er gleich nebenan am Tegeler Hafen zu Hause war. Orlando, der noch bei seinen Eltern in Tempelhof wohnte, kam mit der U 6. Sie trafen sich vor dem U-Bahn-Aufgang gegenüber der C&A-Filiale.

»Auf der Fahrt hierher ist mir erst klar geworden, dass wir uns bis jetzt nur für Wiederschein interessiert haben«, sagte sein Enkel, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Aber die Wurst hat sozusagen zwei Enden zum Anbeißen – und das andere Ende, Klütz also, ist genauso wichtig.«

Mannhardt fand das Bild irgendwie schief für jemanden, der Staatsanwalt werden wollte, hielt sich aber mit der Kritik zurück, denn die jungen Menschen wurden ja zunehmend empfindlicher, wenn man ihre Einmaligkeit infrage stellte.

»Ja, du hast recht, denn wenn wir dahin kommen, Wiederschein die Tat nachzuweisen, Klütz aber plötzlich eine Kehrtwende macht und sagt: ›Ich war es doch‹, würden wir ziemlich dumm dastehen. Da hätten wir dann gleich zwei Täter auf einmal.«

Orlando Drewisch blieb stehen und rief. »Mensch, du, Opa, das isses vielleicht: Sie haben die Tat gemeinschaftlich begangen!«

»Quatsch!«

Sein Enkel blieb hartnäckig. »Warum denn nicht?«

»Weil …« Ein Argument, das Orlandos These schlagartig widerlegt hätte, wollte Mannhardt nicht so schnell einfallen. »Weil … Wie sollten sie sich denn kennen und verabredet haben?«

»Ja, wie wohl?« Orlando lachte. »Als Klütz bei sich auf dem Baugrundstück gestanden und Wiederschein gesehen hat.«

»Hm …«, murmelte Mannhardt. Möglich war alles. Dann fiel ihm doch noch etwas ein. »Ausgeschlossen, bei Fontane gibt es nur einen Täter und nicht zwei, sieht man mal von Ursel Hradschek ab.«

Orlando schüttelte den Kopf. »Du, Fontane war immer sehr für das Neue, und wenn er wirklich das Drehbuch zu seinem Remake geschrieben hat, warum sollen da nicht zwei Täter vorkommen? Den Klütz hat er ja eh schon eingeführt, und was soll er nun mit ihm anfangen?«

»Je mehr ich darüber nachdenke …« Mannhardt blieb stehen. »Das würde auch erklären, was wir uns alle nicht so ganz erklären können: Dass Klütz zehn Jahre lang sozusagen freiwillig im Gefängnis gesessen hat.«

»Klar …« Orlando spann den Faden weiter. »Beide bringen Schulz um, vergraben ihn bei Klütz unter der Garage – und Klütz fährt als Schulz verkleidet im Porsche davon. Das ist des Rätsels Lösung!«

Als sie dann im Café Margrit Minder-Cerkez gegenübersaßen und ihr diese These von der Doppeltäterschaft vortrugen, lachte die nur.

»Nein, meine Herren, Karsten hat Schulz weder allein noch mit Wiederschein zusammen ermordet, Karsten ist absolut unschuldig.«

Sie sagte das mit einer Emphase, wie sie Mannhardt von vielen Politikerinnen der Partei aller Gutmenschen kannte, und die sie besonders dann an den Tag legten, wenn sie vor einer Fernsehkamera standen.

»Ich kenne Karsten Klütz bereits seit fünf Jahren«, sagte Margrit Minder-Cerkez. »Zeit genug, jemanden kennenzulernen und sein Handeln zu verstehen.«

»Und warum hat er den Mord denn auf sich genommen?«, fragte Orlando.

»Weil … Es war im Grunde ein Selbstmord, den er da begangen hat. Er hatte nicht mehr leben wollen, einerseits, es aber andererseits auch nicht geschafft, sich vor einen Zug zu werfen oder sich zu erschießen.«

Mannhardt blieb skeptisch. »Und woher rührt nun sein plötzlicher Sinneswandel?«

»Der rührt daher, dass wir uns lieben und er mit mir ein neues Leben beginnen möchte.«

 

*

 

Letschin war laut Reiseführer durch dreierlei bekannt. Erstens durch seine Schinkel-Kirche, von der allerdings nur der Turm den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte, zweitens durch seine Gurkeneinlegereien und drittens durch die Tatsache, dass hier zwischen 1838 und 1849 Fontanes Vater eine Apotheke betrieben hatte.

»Welches ist der Zusammenhang zwischen Fontane und den eingelegten Gurken?«, fragte Mannhardt, als sie im Auto saßen und am Oderbruch angekommen waren. Weder Heike noch sein Enkel wussten es, und Silvio schon gar nicht, sodass er selbst die Antwort geben musste: »Fontane hat einmal geschrieben: ›Wenn ich in den Vesuv falle, etwas angebraten wieder herauskomme, nachdem ich unten die Erde habe kochen hören, dann es im Triumph nach Neapel geschafft habe und von einer Nonne und drei Engländerinnen gepflegt werde, so kann das jeder beschreiben, aber über »saure Gurken« und »warm sind sie auch noch« sich angenehm zu verbreiten, ist sehr schwer.‹«

Orlando hatte ›Unterm Birnbaum‹ mitgenommen und gerade noch einmal das Nachwort gelesen. »Da wird klar, dass Fontane öfter bei seinen Eltern in Letschin gelebt hat und dass das Tschechin im Roman mit Letschin gleichzusetzen ist. Und nicht nur das: ›Fontane hat die nie völlig aufgeklärten Vorgänge um den Tod eines Stettiner Geschäftsmannes (mutmaßlich) in Letschin, die eben damals, als er dort weilte, für Aufregung sorgten, einige Jahre vorverlegt.‹«

»Dann ist der Plot also nicht mal auf seinem eigenen Mist gewachsen«, sagte Heike.

»Bitte nicht solch ein Pfui-Wort wie ›Mist‹ in Gegenwart des Jungen!«, rief Mannhardt, sie parodierend. »Du bist ja schlimmer als Dieter Bohlen.«

»Und als Detektiv hat sich Fontane bekanntlich nicht hervorgetan«, sagte Orlando. »Sonst hätte er ja die Sache damals aufgeklärt.«

»Hm …« Mannhardt musste einen Augenblick nachdenken. »Aber immerhin lassen sich bei ihm doch der Justizrat Vowinkel und der Pastor Hradschek das Personal vorführen, um es zur Sache zu vernehmen, das heißt, was ihnen durch den Kopf gegangen ist, als der mutmaßlich falsche Szulski am Morgen mit seiner Pferdekutsche davongefahren ist, und wie es mit ihrem Herren so stünde. Guck gleich mal nach.«

Nach einiger Suche hatte Orlando die fragliche Stelle gefunden. »Ja, der Ede zittert bei der Vernehmung und sagt über Hradschek: ›He is so anners.‹ Male, die Köchin staunt, weil Szulski vor seiner Abreise gar keinen Kaffee getrunken hat. Und Jakob wundert sich, als er Szulski die Treppe runterkommen sieht, ›dat he so ’n beten lütt utsoah‹. Auch wird sein Gruß nicht erwidert. ›… as ick to em seggen deih: »Na Adjes, Herr Szulski«, doa wihr he wedder so bummsstill un nickte man blot so.‹«

»Sehr schön«, sagte Mannhardt. »Ich sage ja, dass wir mit Freddie und Gudrun die Schlüsselfiguren vor uns haben.«

Derart plaudernd kamen sie nach Letschin, hakten alles ab, was abzuhaken war, und fuhren weiter Richtung Oder, den Blick auf die Hügel gerichtet, die schon drüben im Polnischen lagen. Kurz danach hatten sie Kienitz erreicht.

»Schön, dass sie den -ky nun schon mit einem eigenen Dorf geehrt haben«, sagte Mannhardt, der ab und an schon mal Kriminalromane las. Nach einigen Irrfahrten hatten sie das Gasthaus ›Am Deich‹ erreicht.

Freddie und Gudrun waren ihnen durch die umfassende vorangegangene Recherche so vertraut, dass sie die beiden schnell ausmachen konnten. Freddie stand hinter der Theke, zapfte Bier und goss Getränke ein, während Gudrun in der Küche war und dem dunkelhäutigen Koch zur Hand ging. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man sie hinter der Durchreiche deutlich erkennen. Die Serviererin schien nach der Art, wie sie berlinerte, eine Einheimische zu sein.

Mannhardt stieß Heike an. »Du, Omma, darüber kannst du morgen gleich berichten: Die letzte Frau unter 30 in den neuen Bundesländern, die noch nicht ab in den Westen ist, um sich einen gut bezahlten Job und einen Mann mit einem Intelligenzquotienten über 100 zu suchen. Wir haben also eine echt Zurückgebliebene vor uns.« Einem Zuruf des Wirtes entnahmen sie, dass die besagte junge Frau auf den Namen Muriel hörte. »Wahrscheinlich ist sie Melkerin von Beruf, weil ihre Mutter beim Lesen des Namens Muriel gedacht hat, das hat was mit Kühen zu tun: Muh!«

Heike sah ihn böse an. »Erstens bin ich nicht Orlandos Oma, und zweitens, hör bitte auf, über die Märker zu lästern.«

Um sich die Wirtsleute geneigter zu machen, bestellten sie, ehe sie zur Sache kamen, erst einmal das Teuerste, was auf der Speisekarte stand. Das waren Zander in Butter gebraten und ein Steak vom Strauß.

»Einmal das Steak von Franz Josef«, sagte Mannhardt, als Muriel dann neben ihm stand, um die Bestellung aufzunehmen.

»Nicht doch lieber von Botho oder den Österreichern, Johann Vater oder Johann Sohn?«

Mannhardt war baff, Heike und Orlando grinsten schadenfroh. Es stellte sich heraus, dass Muriel eine entfernte Verwandte Gudruns war, in Berlin Politik und Kunstgeschichte studierte und nur an den Wochenenden als Serviererin arbeitete.

»Schade, Opa, dass du keinen Beruf hattest, wo man Menschenkenntnis erwerben konnte«, sagte Orlando.

»Wofür hat er mich denn gehalten?«, fragte Muriel.

»Ach, da schicke ich Ihnen mal eine Mail oder eine SMS

Muriel schien nicht abgeneigt, Orlando näher kennenzulernen, und schrieb ihm ihre Handynummer und ihre E-Mail-Adresse auf einen Bierdeckel.

Mannhardt lachte. »Wie hat schon Emile Durkheim gesagt: ›Das Verbrechen eint die aufrechten Gemüter.‹«

Muriel stutzte, dann ahnte sie, warum die Berliner hier waren. »Geht es um diesen Wiederschein beziehungsweise den Schulz und den Klütz?«

»So ist es, und es wäre nett, wenn Sie Gudrun und Freddie fragen würden, ob sie nachher eine Viertelstunde Zeit für uns hätten.«

Alles ließ sich glänzend an, und als die beiden später auf sie zukamen, sollte die Sache so schwer nicht werden.

Heike stellte sich als Journalistin vor, präsentierte ihren Presseausweis und erklärte, dass der Fall Klütz mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder aufgerollt werde und dass dann Wiederschein und seine Frau wegen des Mordes an Siegfried Schulz auf die Anklagebank kämen. »Und Sie beide müssen dann an Eides statt aussagen, dass Sie damals nichts Auffälliges bemerkt hätten.«

»Und überführt man Sie des Meineids, sieht es schlecht aus um Ihre neue Existenz hier«, fügte Orlando hinzu.

Mannhardt konnte ihn kaum bremsen. »Langsam, Herr Staatsanwalt, langsam.«

Aber dieser Eröffnungszug blieb nicht ohne Wirkung, denn Freddie setzte sich zu ihnen an den Tisch, um so leise sprechen zu können, dass die anderen Gäste nichts verstanden.

»Ja …« Es folgte ein tiefer Seufzer. »Ich will kein Denunziant sein … Und nachdem Klütz gestanden hatte, war ja auch alles klar.«

»Aber nun …?« Mannhardt sah ihn bittend an.

»Aber nun, wo Klütz sein Geständnis widerrufen hat, da … Ich hab’s natürlich in der Zeitung gelesen und geahnt, dass hier mal jemand aufkreuzt und wieder alles aufwärmt.«

Heike bemühte sich, ihm die Brücke zu bauen, die nötig war. »Und als Sie gelesen haben, dass Klütz alles abstreitet, ist Ihnen wieder in den Sinn gekommen, dass Wiederschein es ja doch gewesen sein könnte.«

»Ja, mit Klütz zusammen.« Freddie beugte sich noch weiter zu ihnen herüber und schloss die Augen. »Wenn ich den Mann so vor mir sehe, der da morgens zum Porsche gegangen ist, dann … Das war nicht der Schulz. Und Kaffee getrunken hat er auch keinen, und kein Wort mit mir oder Gudrun gesprochen.«

»Ja, da kann ich mich nur ganz voll anschließen«, sagte Gudrun. »So war es damals, hohes Gericht.«